An jenem Tag der Selbstgerechten, dem jüngsten Tag des endlichen Gerichtes, falls er sich so ereignet, wird der Weltgeist kaum danach fragen, ob ich dem katholischen Katechismus die Treue hielt, den Worten der Pharisäer der Gesetzeskirchen glaubte oder mich brav genug dem Durchschnittsdiktat der Gemeinschaft ergeben hatte. Eher wird Er mich fragen, ob ich, entgegen seinem Rat, in Seinem Namen geschworen habe und wie ich die Fragen teilte, statt die Menschen mit Antworten abzuspeisen. Ihn wird interessieren, ob ich nur Liebeskonzepte lebte oder alles Leben liebte, vor den tausend Dimensionen der Zärtlichkeit floh, anstatt aus ihr und für sie zu leben. Wird Er mich fragen, ob ich mich wehrte, wenn man Ihn in fassbare Formen zwang, mit Christbaumkugeln entstellte, in eng geschnürte "Logien" hüllte, um der Weite der Anwortlosigkeit zu entgehen? Stand ich ein für Entrechtete und Verletzte, öffnete ich dem Verzweifelten meine Tür? Er wird ermessen wollen, wie ich jene Eigenständigkeit und Treue, die er in mein Leben hauchte, aufrecht durch meine Tage trug, nicht nur für Ihn lebte, Ihn aber IN mir leben liess, um so ein Bruder zu werden und nicht bloss Jünger zu bleiben.
Und war ich konsequent, unbeirrbar der "inneren Stimme" gefolgt? Hatte ich mich freudig den Fragen, Widersprüchen, Zweifeln, der Wirklichkeit ausgeliefert und Ihn auch dann nicht aus dem Geist verloren, wenn er abwesend schien? Er wird sich erkundigen, ob ich wärmte, wo Kälte war und kühlte, wo die Hitze brannte und ob ich vielleicht nur eigennützig die Lebensängste in buchhalterischer „Liebe“ erstickte, angst- und sicherheitsbehindert im eigenen Selbst gefangen. Fand ich den Mut, unbekümmert jene Tempel zu räumen, in denen ich auf Krämerseelen stiess und konnte dennoch streiten bis hin zum Frieden? Und wenn Er mich fragt: „ Hast du dir, trotz deiner Lebenserfahrung, die Unmittelbarkeit der Kinder erhalten, ihre Furchtlosigkeit und tiefgründige Offenheit , auch um den Preis äusserer Verluste, selbst wenn man dich zum Narren machte?“
Ich werde bis dahin wohl alles vergessen haben und zu aufgeregt sein, um mich zu erinnern. Mit schalkhaftem Blick mag ich Ihm dann sagen: „Schau, das alles weißt Du doch selber, also quäle mich nicht mit Deinen Fragen. Schliesslich hast Du meist geschwiegen, wenn ich meine Anliegen in Dich legte. Aber eines kann ich Dir sagen: Ich habe versucht mein Leben zu teilen und es zu verschenken, indem ich es Tag für Tag empfing und weitergab. Ohne Erwartung, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft, aber in Deiner Gegenwart. Wenn Dir das nicht genügt, dann bist Du nicht zu retten und mein Leben für die Vision Deines Vorhandenseins war vergeblich. Jedoch nicht für die Menschen. MIR würde das schon genügen. Und Dir?
©bw