10 Wenzels Besuch - vivo-kloster

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WENZELS BESUCH
Eine zeitlose Reise zur  Komturei Tobel von 1228 bis 2010

Verwundert, vorsichtig und mit gemischten Gefühlen ging er auf die ehrwürdige Komturei zu. Er sah die überwucherten Gartenflächen, die Generationen von Bauten auf dem Gelände, die selt-sam kahlen Stellen, auf denen wohl Häuser und Ställe gestanden hatten, die er aus seiner Zeit nicht kannte. Auch dieses ländlich edle Herrenhaus, mit dem einsamen linken Seitenflügel, gab es damals nicht. Leicht schleppenden Ganges bewegte er sich zwischen einer zerfallenden Mauer und der grossen, aus dem Lot geratenen, Eingangstreppe zum mächtigen, verwitterten Tor, welches sich links vom Haus zum Hof hin öffnete.

Seine lange Reise durch die Zeit hatte ihn hierher gebracht, hatte ihn, ausgehend von Jerusalem, über Akkon und Rhodos nach Barletta geführt, wo er nach den Spuren seiner Ritterbrüder gesucht hatte. Danach war Rom sein nächstes Ziel, von wo aus er weiter nach Venedig zog und schliesslich über die Alpen den Weg zur ehemaligen Kommende Bubikon eingeschlagen hatte. Von dort her unternahm er nun diesen Abstecher in die Komturei in Tobel. Danach wollte er weiter nach Heitersheim, im süddeutschen Raum, um anschliessend quer durch Deutschland nach Prag zu gelangen, wo der dortige Grossprior ihn, den jungen und weltneugierigen Ritter, damals in den Orden der Johanniter aufgenommen hatte.

Nun stand er vor dem Hoftor der Komturei, links über sich sah er den ihm vertrauten Bergfried, welcher inzwischen zum Kirchturm geworden war. Er berührte verträumt den alten Putz des Hauses, die blätternde, ockerbraune Farbe am grossen Tor und betrat den Hof, wo er schliesslich auf Menschen stiess. Er beobachtete ihr emsiges Tun, vernahm hier Geplapper, dort Gelächter und keiner hatte ihn gesehen, obwohl er mittendrin neben dem versiegten Brunnen stand. Einige bearbeiteten Werkstoffe, die er nicht kannte, welche sie in Formen brachten und zu Gestalten werden liessen, wie er sie noch nie gesehen hatte. Was diese Raumkörper darstellten und was ihr Sinn war, konnte er nicht ergründen, dennoch zogen sie ihn magisch an und verzauberten ihn. Andere wiederum sassen still für sich alleine, schrieben, zeichneten, malten oder liessen sich auch nur von der Sonnenwärme streicheln. Während er diese Eindrücke zu ordnen suchte, hauchte ihm der laue Sommerwind ein Blatt Papier vor die Füsse. Er bückte sich danach und versuchte es zu lesen. Die Grossbuchstaben kannte er gut aus den Pergamenten, mit den kleinen Zeichen tat er sich schwer. Schliesslich entzifferte er ein erstes Wort, " T - a - t - o - r - t " - TATORT? Wie wollte dieses Wort verstanden sdein? Bezog es sich auf einen Ort des Geschehens, an dem sich ein Verbrechen ereignet hatte? Das war naheliegend, hatte er doch die vergitterten Fenster gesehen, die auf ein Gefängnis hindeuteten. Oder stand "TATORT" für einen "Ort des Tuns" in ganz anderem Sinne? …

Jäh wurde sein Gedankenfaden durchschnitten, als er hinter sich die Frage hörte: "Woher kommst du?". Er fuhr herum und vor ihm stand ein mittelgrosser junger Mann, mit einem ganz leicht gedrungenen, kräftigen Körper und dichtem, sehr dunkelbraunem Haar, in dem das helle Licht einen blauen Farbton aufschimmern liess. Auf seinem Haupt trug er eine Mütze, versehen mit einer Art Sonnenblende, darunter sassen zwei dunkle Augen, die sowohl den Schalk verrieten, wie sie auch den Schleier der Nachdenklichkeit in sich bargen. "Was tust du hier?", fragte ihn der junge Mann. Er rang nach einer Antwort und war zugleich froh, jemanden gefunden zu haben, der ihn sehen konnte und in einer Sprache fragte, die auch er beherrschte. "Ich weiss nicht recht …", setzte er zur Antwort an, brach jedoch unvermittelt ab, um neu und anders zu beginnen: "Woher ich komme, kann ich dir nicht sagen, aber würdest Du mir zeigen, wo ich bin?". Der junge Mann nickte, nahm ihn mit sich und sie begaben sich zusammen auf einen Rundgang durch die Häuser. Mit einem Seitenblick auf das Blatt Papier in der Hand des Alten, als könne er Gedanken lesen, hob der Junge an und erzählte, dass dies sehr wohl ein Gefängnis gewesen sei, jedoch das Wort TATORT nur noch wenig Bezug zu dieser Geschichte habe. Vielmehr wären hier Kunstschaffende dabei, durch ihre Tat an diesem Ort den zerstörerischen Kreislauf des unangezweifelt "vertraut Gewohnten" aufzubrechen. Mit Werken und Klängen wollten sie auf jenen gesellschaftlichen Wahnsinn zielen, welcher, sobald er Mehrheiten befiel, als solcher nicht mehr wahrgenommen wurde. Ihr Anliegen sei es, einen Entwurf gegen die zukunftslähmende Raffsucht und Bewahrungsgier der Menschen zu finden. Sie sähen sie als Zeichen dafür, dass sich die Spirale des Bewusstseins abwärts drehte, statt nach oben. Die Menschen seiner Zeit hätten viel zu viel Angst, schloss der junge Mann seine Ausführungen. Dann fragte er den Besucher geradeheraus und dennoch zurückhaltend nach seinem Namen. Dieser sagte leise, dass er Wenzel hiesse und schaute nun fragend seinen Gastgeber an. "Simon!", erwiderte der junge Mann, hielt Wenzel seine Hand entgegen. Dieser schlug ein.

Wenzel bedachte, was Simon ihm erzählt hatte, hörte die Zwischentöne und folgte ihm wortlos durch die Räume. Niemals hatte er gesehen, was sich vor seinen Augen nun ausbreitete: Eine Wand aus geknickten Spiegeln, ein Holzbein in Scherben eingebettet, ein Zimmer voller Spielzeug, Räume mit Gegenständen, prall von Eigenleben, er stiess auf den schönsten Stapel Holz den er je gesehen hatte, verfing sich in einem hingemalten Spinnennetz und unsicheren Schrittes betrat er eine Kammer, die rundum weich mit weissem Tuche ausgeschlagen war, so dass man sich in einer Wolke wähnte. Unbekannte Klänge drangen an sein Ohr, er sah Bilder, die sich bewegten, sah die Freude, den Brand der Seelen, die Wehmut, die Ausfälligkeit, die Zärtlichkeit, empfand das Harte und das Zerfliessende. Hier trafen seine Sinne auf alles, was er je in Menschen gefunden hatte, gebündelt und vereint an einem einzigen Ort. Wenzels Seele war offen wie der Riss in einer Wolke, durch den ein Sonnenstrahl zum Erdoboden fand. Als Simon gerufen wurde und sich nach kurzem Abschied entfernt hatte, stand Wenzel etwas verloren da, aber glücklich über diese Begegnung inmitten der Sprache einer Zeit, von der ihn Jahrhunderte trennten. Gleichwohl vermochte sie alle Saiten seines Wesens zu bespielen. Langsam ging er weiter durch die Räume, entdeckte schliesslich im Erdgeschoss einen Schankraum mit farbigen Lampen, aufgetürmten Flaschen und schwarzen Kästen, aus denen leise Musik zu hören war. In einer Ecke fand sich eine Bank, die einen Tisch umschloss, auf dem eine Kerze brannte. Dorthin setzte er sich. Er bedurfte dieses vertrauten Lichtes, gar viel hatte er gesehen, gehört und empfunden in dieser kurzen Zeit.

In der Stille seines kleinen Winkels im grossen Raum verdichteten sich seine Gedanken zu traumhaften Bildern. Oh ja, das wusste er, die Kraft der Poesie konnte die unnahbarsten Zeitgenossen erschüttern, gerade so, wie auch die Musik ungehindert in das Innerste eines Menschen fand. Wie oft hatte ihn die Kunst seiner Zeit, vorallem jene des Orients, die er bestens kannte, in seinen Grundfesten berührt, verunsichert und ihm neue Erkenntnisse und weite Horizonte erschlossen. Als er noch ein junger Mensch gewesen war, in Simons' Alter vielleicht und offen wie dieser, führten ihn die leidenschaftlich hingelebten Fragen der Kunst zu den Türen seines Geistes. Wenn doch Kunst solche Bewegungen auslösen konnte, woher rührte dann die Angst vor ihr, die so viele hatten? War es die Furcht vor sich selbst, vor der eigenen Bewegung, vor neuen Ufern, nach denen man sich insgeheim sehnte? Und war es nicht so, dass Mut nur durch die Überwindung der Angst zu finden war? Konnte es wirklich sein, dass die Menschheit, auch so viele Jahrhunderte nach seinem eigenen Menschenleben, sich in ihrem Grunde derart wenig verändert hatte? Und Simon, warum dachte er so anders, war so verantwortungsbewusst und - weshalb hatte er ihn sehen können, während ihn alle anderen nicht erkannten? Wenzel sass mit geschlossenen Augen auf der Bank und liess seinen Gedanken freien Lauf, bis ihm endlich greifbar wurde, was er Simon bei dessen Rückkehr sagen wollte. Da er sich unsicher war, ob er ihn noch treffen würde, schrieb er ihm einige Zeilen auf ein Blatt Papier:

Simon, mein junger Freund,
was wirklich wichtig ist, streift barfuss durch die Wiesen und ist in ausgewachsener Grösse einfach da, wenn seine Stunde schlägt. Abertausende säumen diesen Weg durch das Gras mit ihrer Arbeit und ihren Gedanken zu Raum und Zeit. So kommt es, dass die Kunst meist leise wirkt und doch kann sie Menschen vereinen oder trennen. Vergiss nicht, wie ein einziges Bild, eine Abfolge von Tönen, der winzige Satz eines Poeten oder Denkers den ganzen Erdball umkreisen kann. Die Künste sindein immerwährendes Dominospiel des Geistes durch die Zeit. Für die Mächtigen sind sie eine unberechenbare, starke und oft gefährliche Kraft. Sie möchten sie bändigen, unterwerfen, sich aneignen, verändern oder sie an den Rand des Lebens drängen. Dies obwohl uns die Geschichte lehrt, dass die Künste unsterbliche Werke von grösster Gültigkeit geschaffen haben, unumkehrbare Schritte des Bewusstseins erbrachten und Ideen, die Jahrtausende überdauerten. Und ob dies leise vor sich ging oder laut zu hören war, die Künste sangen immer das Lied der Freiheit.
Mit eurer Tat an diesem Ort zielt ihr auf die vielen Untat-Orte mit ihrer Belanglosigkeit. Ihr wagt den Widerspruch gegen jenen Gefängnisbau, der nichts mit diesem Ort zu schaffen hat, sondern in den Köpfen der Menschen sitzt. Wenn die Menge schweigt und den Lügen der Behäbigkeit Glauben schenkt, dann reicht es nicht, Kunst zu betreiben, die nur sich selbst genügt; dann muss genau das geschehen, was ihr an die Hand genommen habt: Fragen, aufstehen, dagegenstehen und widersprechen. Die Kunst hat dies immer getan und sie darf nicht ruhen, es weiter zu tun. Denn nur so kann sie glaubhaft jene Aufgabe erfüllen, die sie selber durch die Jahrtausende getragen hat, als Gewissen ihrer Zeit.
Ich grüsse Dich von Herzen.
Wenzel

Behutsam faltete Wenzel den Brief. Auf die Rückseite schrieb er "für Simon" und stellte den Kerzenständer auf eine Ecke des Papiers, damit es nicht weggeblasen wurde und gut sichtbar blieb. Zufrieden erhob er sich und ging über den knarrenden Riemenboden zur Türe hinaus. Mit kurzem Blick zur Seite grüsste er leicht nickend den Ort, an dem vor Jahrhunderten der kleine Friedhof lag und eine kleine Kapelle stand. In ihrem Vorraum verbrachten damals viele Pilger die Nacht in ihren Decken, bis sie morgens vom Lärm der Fuhrwerke geweckt wurden, die auf den weit verstreuten Gütern der Komturei den Zehnten einzusammeln hatten. Dann erhielten sie eine dicke Suppe, ein Stück Brot, füllten ihre Wassergefässe und zogen weiter nach Compostela, Rom oder Jerusalem. Auf eben diesem Weg folgte nun Wenzel dem Fluss des Baches und liess die Komturei hinter sich zurück. Er war von neuer Zuversicht genährt, denn er hatte erfahren, dass sein Feuer weiter glühte und selbt jetzt sein Wirken aus dunkelalter Zeit noch Früchte trug. Mit jedem seiner Schritte verblassten seine Umrisse mehr, sein Körper schien sich aufzulösen, gewann an Durchsichtigkeit und kurz bevor er in die grosse Strasse hätte einbiegen müssen, war von Wenzel nichts mehr zu sehen …


©bw2010


 
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